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Biedermann
oder eine Welt
von Lüstlingen und Heuchlern?

An den Inglin-Literaturtagen in Schwyz war zu erkennen: Die Rezeption des Schwyzer Schriftstellers Meinrad Inglin (1893–1971) ist überaus wechselvoll. Ein Stimmungsbericht für Inglinianer und andere, die es werden wollen.

 

Von Daniel Annen

1938 war die Zeit, als einige Innerschweizer Kulturschaffende um den Luzerner Oberbibliothekar Albert Müller den ISSV (zuerst noch ISV) andachten, obwohl der Verein erst 1943 gegründet wurde. Inglin stiess 1953 zum ISSV, wie Josef Konrad Scheuber, damals ISSV-Präsident, in einer Ankündigung zu Inglins 75. Geburtstag im Jahr 1968 schrieb.

Der Priester Scheuber, in vielerlei Hinsicht stark im katholischen Milieu und in der geistigen Landesverteidigung verhaftet, erwähnte Inglins 1922 erschienenen Erstling, «Die Welt in Ingoldau», um diese Zeit bereits ohne negative Untertöne. Ob er allerdings diesen Erstling zu Recht als «Jugendroman» bezeichnete? Gewiss kommen Jugendliche vor in diesem Buch, aber ihre Sexualität wird so sehr problematisiert, dass gerade Leute wie Scheuber es kaum als Lektüre für Jugendliche empfohlen hätten. Das Fluidum der damals noch bekannten Trotzli-Bücher jedenfalls wirkte anders.

Man bedenke: Als der Erstling in der Adventszeit 1922 erschienen war, wetterte Inglins Schwyzer Mitwelt. Inglin selber schreibt davon im Januar 1923 seinem Kommilitonen aus der Berner Studienzeit: «In Schwyz hat man mich von der Kanzel herab verdammt. Ausserdem wollten mich ein paar Fanatiker totschlagen. –»

 

Dominanz der Moral

Von der Kanzel herab! Es war die kirchliche Dominanz in der Mentalität des Fleckens Schwyz, die in Antipathien gegen Inglin umschlug. Sie förderte keineswegs eine Lektüre à la Jugendbuch. Man lese etwa einen für die schwyzerische Kritik bezeichnenden Satz in einem Verriss der Luzerner Zeitung «Vaterland» vom 30. Januar 1922: «Eine Welt von Lüstlingen und Heuchlern» sei die «Welt in Ingoldau». Da sei zum Beispiel ein «scheusäliger Wirt und Verführer», da seien «Mütter, die ihre Söhne verhätscheln», und «Knaben, die in jugendlichen Verirrungen verstrickt sind».

Es ging vor allem um moralische Positionen, gegen die der Roman aus der Optik damaliger Schwyzer heftig einfuhr. «In widriger Weise wird Heiliges (im besondern die Beicht [sic!]) und Unheiliges einander an die Seite gestellt, das Lüsterne und Frivole mit offensichtlicher Lust gesucht, der tiefe sittliche Ernst fehlt und wo er vorgespielt werden will, kann man nicht daran glauben.» Es ging also vor allem um Moral, darum die zentrale Stellung der Beichte in diesem Verriss. Dass die Fronleichnamsprozession am Schluss des Romans relativ gut wegkommt, wurde kaum zugegeben.

Der Autor des Verrisses scheint denn auch nicht sachliche Gründe dagegen aufbringen zu können. So ärgert er sich vor allem darüber, dass ausgerechnet ein Apostat die Fronleichnamsprozession kommentiert. «Die sittliche religiöse Erhebung muss schliesslich der abtrünnige Priester bieten, in seinen Glossen über die Fronleichnamsprozession.»

 

Milieukatholizismus und heute

Dieser Ärger passt zum damaligen Milieukatholizismus, der den Geistlichen eine Bedeutung zumass, die kaum neutestamentlich oder aufgrund einer ernstzunehmenden aktuellen Theologie begründet werden kann. So musste eine Kommentierung eines kirchlichen Fests ausgerechnet durch einen, der das Amt des Geistlichen abgelegt hat, als Frechheit erscheinen. Auch das Wort «Glossen» mag negativ eingefärbt sein. Aber immerhin: Von der Sache her wird eine «sittliche religiöse Erhebung» zugestanden, mag dieser Ausdruck vom Kontext her auch sarkastisch klingen.

Heute, 100 Jahre nach dem Erstdruck von «Welt in Ingoldau», dürfte wohl eine aktuelle Mentalität, selbst eine theologisch ausgerichtete, dem Ingoldau-Roman gewogener sein. Das zeigte sich auch an den Inglin-Literaturtagen 2022. Auf Initiative des Schwyzer Juristen und ehemaligen Nationalrats Reto Wehrli kamen verschiedene Facetten der Dichterpersönlichkeit Inglin zum Vorschein.

Am 27. Mai war Auftakt in der von Markus Rickenbacher geleiteten Kantonsbibliothek Schwyz und war zugleich Vernissage für eine Neuauflage des Ingoldau-Romans, den der Zürcher Limmat-Verlag nun in der Originalfassung von 1922 neu herausgegeben hat. Die Meinrad Inglin-Stiftung war vertreten durch deren Präsidenten Ulrich Niederer.

 

Literatur berührt Biologie

Weiter ging es einen Tag später mit einer Lebhag-Pflanzung beim Kollegi Schwyz, zusammen mit Schwyzer Schulkindern und dem Schwyzer Bildungsdirektor Michael Stähli. Darauf folgten im Rössli zwei Vorträge über die Erzählung «Der Lebhag» von Meinrad Inglin. Einer hielt der Germanist Nathanael Schindler, der zweite der Umweltingenieur André Röthlisberger. Literarische und biologische Aspekte berührten sich.

Der Schauspieler Philippe Schuler spielte die Rolle Meinrad Inglins am Schwyzer Wuchemärcht und hielt als Inglin die 1.-August-Rede. Am 27. August hielt der hier Schreibende einen Vortrag über den Ingoldau-Roman, im Anschluss daran erbot sich eine Diskussion mit den Germanisten Viktor Weibel und Georg Suter sowie Personen aus dem Publikum. Das Interesse war auch 100 Jahre danach gross,  es wurden ca. 130 Hörende gezählt.

Am 22. September trat Thomas Hürlimann auf. Der Schriftsteller und ISSV Mitglied betonte eher den konservativen Charakter des Romans, was Diskussionen auslöste. In diesem Zusammenhang wurde auch der Bezug zu Nietzsche wichtig, den Stefan Zweifel und Klaus Opilik aufzeigten. Die polnische Germanistik-Professorin Marzena Gorecka beleuchtete am Abend darauf Inglins Beziehung zu seiner Frau Bettina. Gorecka kennt diese Beziehung gut, ihr Buch enthält einen  beachtlichen Teil der Briefe zwischen Inglin und seiner Bettina.

 

Bergwelt und Gerichtsverhandlung

Einen wichtigen Aspekt dieser Inglin-Tage bildete der Naturbezug. In einem Event ging der kantonale Wildhüter Pius Reichlin auf Inglins Darstellungen der heimischen Landschaft und Bergwelt ein. In diesem Zusammenhang kam auch die Filmwelt zum Zuge. Filmemacher Xavier Koller führte höchstpersönlich in seinen Film «Der schwarze Tanner» ein. Ebenso gaben Charlotte Waltert und Alvaro Schoeck Einblick in die Arbeit des inzwischen fertiggestellten Films «Die Graue March».

Weiter fand am 3. September eine Führung durch Schwyz statt, mit besonderem Akzent auf literarisch relevante Orte. Die Literarische Gesellschaft Zug war ebenso Teil davon. Die Führung, welche auf dem Schwyzer Hauptplatz begann, führte unter anderem in die Patrizierhäuser und schlussendlich zu zwei im wichtigen Gräbern auf dem Friedhof, welche in «Werner Amberg» vorkommen. Zu guter Letzt zeigte der Künstler Norbert Stocker, der heute das Inglin-Haus bewohnt, wichtige Reminiszenzen dieses Orts.

Entsprechend gut besucht und hochinteressant war auch die Gerichtsverhandlung im Kantonsratssaal des Schwyzer Rathauses am 24. September. Richtig gelesen: eine Gerichtsverhandlung! Der Angeklagte war Meinrad Inglin, erneut dargestellt von Philippe Schuler. Die eigentliche Causa war der ehrverletzende Charakter des Ingoldau-Romans. Dadurch, dass die Debattierenden auch in der realen Welt Anwälte sind (Alois Kessler und Sandro Tobler), war der Bezug zur Realität gegeben. Vital Zehnder, welcher den Richter darstellte, gehört zum Führungsgremium des kantonalschwyzerischen Verwaltungsgerichts.

Untermalt wurde das Literaturfest immer wieder von Musik. Die aus Schwyz stammende Dirigentin brachte Musikstücke zur Aufführung, die Inglin selber komponiert hatte und wohl auch mit seiner Frau Bettina gespielt hatte.

 

Eine bejahende Universalität

Das Abschlussbouquet am Sonntag war ein brillant aussagekräftiges, vor allem in Bezug auf Meinrad Inglin. Der Einsiedler Abt Urban Federer und der frühere Schwyzer Pfarrer Reto Müller hielten an der Sonntagsmesse in der Pfarrkirche St. Martin Schwyz eine Predigt in Dialogform. Dabei arbeiteten sie klug heraus, wie Inglin mit der verrechtlichenden katholischen Praxis seiner Zeit Mühe hatte, wie sehr er aber Grundmotive des katholischen Denkens im Sinne einer bejahenden Universalität, also nicht einer nur als Institution erfahrenen Kirche, bejahen konnte.

Das Vertrauen in eine höhere, darum nicht begrifflich durch und durch fassbare personale Macht war Inglin wichtig. Man lese nur dir Schlusspassagen der «Grauen March» daraufhin durch. Die Musik, die ja nicht auf umhegte Einzelbegriffe abhebt, war an der Messfeier vom 25. September entsprechend wichtig. Rita Weber war gerade darum eine vorzügliche Organistin an diesem Gottesdienst.

Was am Nachmittag des 25. Septembers folgte, war Abschluss und Höhepunkt der Inglin-Literaturtage gleichzeitig. Beatrice von Matt, Literaturwissenschaftlerin und ehemalige Feuilletonredaktorin der NZZ und ausgewiesene Doyenne der Inglin-Freunde und -Forscher. Ihr verdanken wir eine fundierte Inglin-Biografie, in einem doppelten Wortsinn: Einerseits hat sie die Biografie aufgrund der Gespräche mit Inglin und der Hinterlassenen geschrieben, inklusive Unveröffentlichtes. Anderseits konnte sie das nur machen, weil Inglin ihrem Charme erlegen ist.

Diesen Zusammenhang erzählte mir mein väterlicher Freund Paul Kamer bei einer Flasche Wein. Mit dem Wort «Charme», das ging aus dem Gesprächskontext hervor, war das persönliche Auftreten gemeint, doch darin eingeschlossen war die intellektuelle Kraft der berühmten Literaturkritikerin, das literarische Werk in dessen Kerngehalten zu durchdringen. Darum konnte sie Inglins Oeuvre in ihrer Biografie und Aufsätzen positiv konturieren. Sie hat Inglin befreit vom Biedermann-Image, das ihn zu lange wie ein böser Schatten verfolgte. Wie Beatrice von Matt dabei den literar- und geistesgeschichtlichen Kontext miteinbezog war ein grossartiger, ja ein brillanter Abschluss der Inglin-Tage.

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