
Und
dazwischen
ein Ozean
Die Zuger Autorin Martina Meienberg erzählt in ihrem Debütroman von zwei Schwestern auf Schiffsreise. Zwei Ungleiche begegnen sich und sollen ein Auskommen finden. Ein gekürzter Auszug aus dem Roman.
Von Martina Meienberg
Einzelne dunkle Wolken hingen am Himmel, als ich vor der Ausfahrt über die Außentreppe bis zum obersten Deck stieg. Gabriela saß mit schwarzer Wollmütze und Kapuzenmantel auf einem Liegestuhl und winkte mich herbei, als sie mich zwischen den an Deck strömenden Passagieren entdeckte. Sie deutete auf den freien Stuhl neben sich. Die Arme hatte sie um die angewinkelten Beine geschlungen. Vor ihr lagen einzelne Teile der Zeitung durcheinander, darauf standen drei leere Kaffeetassen. Mein Blick fiel auf die karierten Absatzschuhe, die mir schon bei ihrer Ankunft aufgefallen waren. Gabriela hatte sie vor den Liegestuhl gestellt. So konnte ich sie aus der Nähe betrachten und sah, dass die schwarzen Kugeln über dem Rist aus lauter feinen Stacheln bestanden.
»Igel?«, fragte ich.
»Arbacia lixula da Caruso.«
»Von Paolo also.«
»Schwarzer Seeigel. Aber keine Sorge, diese Stacheln sind weich.« Sie griff nach einem der Schuhe und fuhr mit der Hand darüber.
»Ist dein Schuhmacher unter die Meeresbiologen gegangen? Sind auch Haifisch-Modelle im Angebot?«, fragte ich.
»Sein Geschäft ist bereits verkauft. Paolo verlässt Hamburg. Er kommt in die Schweiz und will sich bei mir in Beckenried niederlassen.«
»Er gibt für dich tatsächlich seine Goldgrube auf?«
»Seit Lea … Er verträgt den Kontakt mit seiner anspruchsvollen Kundschaft nicht mehr. Er will nur noch nähen und mit seinen Schuhen allein sein.«
»Davonlaufen, wenn es schwierig wird. Kein Wunder, versteht ihr
euch so gut.«
Gabriela ließ meine Provokation ins Leere laufen. Nicht zum ersten Mal. Als ich sie vor langer Zeit fragte, was ein Italiener im Norden suche, weil ich herausfinden wollte, was es mit der Beziehung zwischen ihr und Paolo auf sich hat, sagte sie: »Er ist seiner großen Liebe nach Lübeck gefolgt.«
»Aber dann hat er dich kennengelernt.«
Ohne auf meine Bemerkung einzugehen, erzählte sie mir vom Hausbrand und dass Paolo als Einziger vor den Flammen gerettet werden konnte, weil er im Keller gearbeitet hatte. Nach dem Unglück habe er es in Lübeck nicht mehr ausgehalten, zog nach Hamburg und stürzte sich in die Arbeit – nähte gegen die Trauer an.
»Unglück und Liebeskummer machen kreativ«, sagte Gabriela schließlich.
Gabriela richtete sich im Liegestuhl auf und schlüpfte in ihre Seeigel-Schuhe: »Ich bin froh, Paolo bald wieder in meiner Nähe zu wissen. Seit ich in der Schweiz bin, vermisse ich ihn sehr. Und seit Leas Tod …« Ihre Stimme versagte. Ich wollte sie in den Arm nehmen, aber ich konnte nicht. Ich berührte die schwarzen Stacheln ihrer Schuhe und war überrascht, wie geschmeidig sie waren, obwohl ich um ihre Künstlichkeit wusste.
Wie viele Schuhe hatte Paolo für Gabriela wohl genäht? Und für Lea erst? Es waren so viele, dass ich für Lea bald einen eigenen Schuhschrank kaufen musste. Ein Kindergartenkind mit eigenem Schuhschrank, man stelle sich das vor!
»Soll sie etwa damit im Sandkasten spielen?«, fragte ich Gabriela, als sie ihr weiße Sommerschuhe aus edelstem Leder überreichte. Aber meine Schwester meinte gelassen: »Lea
ist das Enkelkind, das Paolo nicht hat – also lass ihm doch die Freude.«
Gabriela war aufgestanden und an die Reling getreten. Sie warf einen Blick aufs Hafengelände.
»Ob Paolo wohl schon da ist? Er wollte uns zuwinken«, sagte sie.
Gabriela lächelte und erzählte dann, wie Lea Paolo davon überzeugte, dass Moritz für den Besuch bei ihr im Kindergarten Schuhe brauche. Lea habe gleich zwei Paar bestellt: zwei kleine Schuhe für die Hinter- und zwei noch kleinere für die Vorderfüße. Als Paolo bei Moritz habe Maß nehmen wollen, sei er zum Entsetzen einer Kundin quer durch den Laden gerannt. Ob er denn jetzt hier Meerschweinchen halte, habe diese wissen wollen, worauf Paolo erwiderte, die südamerikanischen Nager hätten eben ein Faible für italienische Luxusmarken. Seine Schlangen seien im Untergeschoss, die bräuchten ja keine Schuhe.
Darauf habe die Kundin den Laden wortlos verlassen.
Martina Meienbergs Roman «Und dazwischen ein Ozean» ist bei edition bücherlese erschienen (https://buecherlese.ch/shops/420/36/0/belletristik/und-dazwischen-ein-ozean).